wurde, bildete sich sogar öfters nachts in regelmäßige Träume, und wie ich die Augen auftat, erschien mir entweder ein wunderliches neues Ganze oder der Teil eines schon vorhandenen. Gewöhnlich schrieb ich alles zur frühesten Tageszeit; aber auch ... tief ... Nacht..." (HA Band X, 47 f.).

Eissler weist in seinem großen Werk über Goethe darauf hin, daß Goethe sogar Träume hatte, deren manifester Inhalt in vollendet gestalteten Gedichten bestand. (Eissler 1487). Wie aus zahlreichen Angaben in Goethes Werk hervorgeht, hat Goethe sich intensiv mit seinen Träumen beschäftigt, dies zeigt insbesondere die Eissler-Studie. Goethe erkannte vermutlich sogar einige Prinzipien der Traumarbeit und wandte diese zur Ausarbeitung zweier seiner Kinderträume zu einem Bühnenwerk wahrscheinlich an (Tiedemann 1986, vgl. Schadewaldt 1959). Sicher ist, daß Goethe seine Fähigkeit, aus seinen Träumen Kunstwerke machen zu können oder sie in Kunstwerke einzugliedern, Gebrauch machte. Dies gilt auch insbesondere für den Faust 1, wie Goethe in einem Brief an Schiller darstellt: Goethe, der von Schiller oft gedrängt wurde, den Faust zu vollenden, schrieb deshalb an Schiller am 22. 06.1797 „... nun wünschte ich aber, daß Sie die Güte hätten, die Sache einmal in schlafloser Nacht durchzudenken, mir die Forderungen, die Sie an das ganze machen würden, vorzulegen und so mir meine eigenen Träume als wahrer Prophet zu erzählen und zu deuten ... da übrigens die ganze Arbeit subjektiv ist: so kann ich in einzelnen Momenten daran arbeiten...". Diese Aufforderung Goethes an Schiller, ihm Goethes eigene Träume vorherzusagen und zu deuten, ist ironisch zu verstehen. Sie zeigt einmal mehr wie zielstrebig Goethe seine Träume in seine dichterische Arbeit einbezog. Vermutlich handelt es sich auch bei der Hexenküche des Faust 1 um eben einen solchen Traum. Es finden sich in der „Hexenküche" des Faust 1 neben Beschreibungen, die sehr an das in DuW geschilderte Zerbrechen des Küchengeschirrs durch den kleinen Goethe erinnern, noch weitere Anhaltspunkte, die Freuds Interpretation „Eine Kindheitserinerung aus DuW" (Freud 1917 b) zusätzlich sehr wahrscheinlich klingen lassen (Tiedemann 1988).

Daß sich Goethe auch in der damaligen Medizin gut auskannte, beweist die Gestaltung der Szene „Auerbachs Keller in Leipzig" des Faust 1. Wir wissen von Goethe, daß er in der Medizin bewandert war, wohl nicht zuletzt durch den Umgang mit Dr. Zimmermann, dem er in DuW einige

Seiten gewidmet hat. In der „Auerbachs Keller ... "-Szene wendete Goethe das damalige Wissen über Trunksucht und delirante Symptomatik an. Diese Szene lebt z. B. sehr von einem beeindruckenden Symptom, des Delirs: der Suggestion (Bleuler; Schüttler) (z. B. suggeriert Mephisto den Zechbrüdern, es könne der jeweils gewünschte Wein aus dem Tisch fließen und entsprechend schmecken). So finden sich in der Szene weiter­hin Beschreibungen über die psychische Wirkung von Alkohol wie „Rausch" (Ur-Faust, HA 382 u. 385) oder „Bestialität" (Faust 1, Vers 2297). Auch Andeutungen über Trinkmengen „still, altes Weinfaß!" (Faust 1, Vers 2308) finden sich ebenso wie die Beschreibung körperlicher (neurologischer) Symptome, Gleichgewichtsstörungen: „Ich hab so eine Probe, ob ich weitertrinken darf". (Macht die Augen zu und steht eine Weile): „Nun, nun, das Köpfchen schwankt schon" (Ur-Faust, HA Band III, 383). Auch die Beschreibung von Symptomen des Delirium tremens, dessen Bezeichnung es in der deutschen medizinischen Literatur seit 1820 (Heineken 1820) gibt, finden sich in der Szene z. B. örtliche Desorientiertheit: ... „Wo bin ich?" (Faust 1, Vers 2316), sowie optische Halluzinatio­nen und illusionäre Verkennung: „Weinberge!" - „Trauben" (Faust 1, Vers 2317 u. Vers 2318). (Bayer. Staatsregierung 1988; ausführlicher in: Tiedemann 1988a und 1995).

Daß sich Goethe nicht nur mit seinen Träumen analytisch beschäftigte, sondern auch mit Mimik und Gebärden, geht nicht nur aus seinen vielfachen Regieanweisungen hervor, sondern insbesondere auch aus einem Brief. Diesen Brief schrieb Goethe 18-jährig im Oktober 1767 an Behrisch. In diesem Brief schildert er eine Geste seiner damaligen Freundin Annette und versucht diese zu deuten: „... und die Tochter fuhr mit der Hand nach dem Auge und wischte sichs als wenn ihr etwas hineingekommen wäre. Das ist's was mich rasend macht... Diese Bewegung kenne ich schon an meinem Mädgen ...". Im Brief folgt dann der Versuch einer Deutung der Geste (WA IV, 1, 100-102).

Eissler hat zu Goethes Versuch der Deutung der Geste in anderem Zusammenhang überzeugende Erörterungen angestellt (Eissler 101 ff.).

Wenn auch Goethes Deutung der Gestik in dem Fall wohl eher mißlungen war, so scheint sie in Bezug auf eine Geste Lili Schönemanns doch dem späteren Goethe gelungen.

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