Originalarbeit


Abschließende Bemerkungen


Die obige Beschreibung psychopa-thologischer Phänomene in der Szene »Auerbachs Keller in Leipzig« im Faust I zeigt, daß sich Goethe offenbar der ihm damals zugänglichen Psychopathologie bzw. Psychiatrie bediente, mindestens scheint ein entsprechender Verdacht gerechtfertigt. Die Szene ist außerordentlich gelungen, auch unter heutigen psychopathologischen Ge­sichtspunkten. Literatur und Psychia­trie müssen offenbar nicht automatisch und zu allen Zeiten einander diametral und unvermittelbar gegenüberstehen (vgl. 21). Goethes Werke zeigen uns, daß beide Bereiche sich bisweilen (mindestens zu seiner Zeit) durchaus einander annähern und miteinander übereinstimmen können.

In seinem Nachwort zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften in der Hamburger Ausgabe, Band XIII, stellt C. F. von Weizsäcker fest, daß Goethe Erkenntnis suchte, »die an sich gelten sollte, über jeden Anteil an seiner Person und seinem dichterischen Werk hinaus«. C. F. von Weizsäcker meint, daß Goethe dieses gelungen sei, wie bei der Untersuchung der subjektiven Farben, der Entdeckung des menschlichen Zwischenkieferknochens und dem Präludium der Abstammungslehre in Goethes Begriff der Metamorphose. Er ist weiterhin der Ansicht, Goethe habe »in den reifen Mannesjahren... kaum erträgliche Bewußtwerdearbeit...« geleistet. Er meint, »der Dichtung Schleier aus der Hand der Wahrheit (Goethe-Zitat) hat der Dichter erhalten..., was nicht gesagt werden kann, ist nicht nur das, was Menschen auszusprechen überhaupt versagt ist. Es ist auch das, worüber dieser eine Mensch, der an seine Grenzen kam oder sich seine Grenzen zog, schweigen wollte« (31). Entspechend meinte Freud, »...daß Goethe nicht nur als Dichter ein großer Bekenner war, sondern auch trotz der Fülle autobiographischer Aufzeichnungen ein sorgsamer Verhüller. Wir können nicht umhin, hier der Worte Mephistos zu gedenken: »Das Beste, was du wissen kannst, darfst du den Buben doch nicht sagen« (10).

Goethe hatte vermutlich auch seine Freude daran, psychoanalytische und

psychiatrische Erkenntnisse dem Leser bzw. dem Zuschauer in seinen Werken zu offenbaren, ohne dies ausdrücklich vorher anzukündigen (2, 26, 27, 29). Meines Erachtens liegt uns das damali­ge Wissen Goethes über Rausch, Alkoholismus und Delirsymptomatik in der Gestaltung und Umgestaltung der Faust-I-Szene »Auerbachs Keller in Leipzig« vor. Wenn auch die Dichtkunst sich gelegentlich der »Zauberei« bedient haben mag, so ist sie offenbar auch unter psychopathologischen Gesichtspunkten großartig gelungen.

Danksagung:
Herrn Prof. Dr. med. R. Schüttler (Ordi­narius für Psychiatrie, Leitender Direktor des Bezirkskrankenhauses Günzburg und Leiter der Abt. Psychiatrie II der Universität Ulm) sage ich meinen herzlichen Dank für die Unterstützung bei dieser Arbeit.

LITERATUR

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21. ReuchleinG Die Heilung des Wahnsinns bei Goethe: Orest, Lila, der Harfner und Spe-rata. Zum Verhältnis von Literatur, Seelenkunde und Moral im späten 18. Jahrhundert. In: Literatur und Psychologie. Urban B, Mauser W (Hrsg). Frankfurt a. M., Bern, New York: Peter Lang, 1983.

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30. Trunz E (Hrsg). Goethes Werke, Hambur­ger Ausgabe in 14 Bänden. München: Beck C, 1979; Band X.

31. Weizsäcker von C. F. Naturwissenschaftli­che Schriften, Nachwort. In: Goethes Werke, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Bd. XIII. Trunz E (Hrsg). München: C. Beck Verlag, 1979, S. 537-554.


Korrespondenzadresse:
Dr. med. Rolf Tiedemann
Arzt für Psychiatrie/Psychotherapie
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