ebenso denkbar, daß Goethe als Kind lieber seine Eltern bzw. seine Mutter aufgesucht hätte, statt der Bedienten und Mägde.)

Auch so ist es verständlich, daß auf dem Weg „zu den Müttern" in der Szene Klassische Walpurgisnacht viele Ungeheuer und Gespenster, wenn auch im klassischen Gewände zu passieren sind. Wie z.B. die Lamien, weibliche Vampire, die aber später zum „Kinderschreckgespenst" herab­gesunken sind (neben der sexuellen, bekannten Bedeutung der Lamien) (Pauly 1979, Bd III, 464). Auch dieser Hinweis bezüglich der Lamien deutet daraufhin, daß Goethe in der Szene Klassische Walpurgisnacht seine Angst, die er als Kind vor Gespenstern hatte (bzw. seine Kastra­tionsängste, s. Eissler 1985, 823), in klassischem Gewand wieder aufleben läßt. Es ist wohl auch kein Zufall, daß Homunculus, in der Faust-Dichtung das kindliche alter ego Goethes (Scholz 180, 245) die obigen berühmten Worte spricht.

Auch das Heldenspielen des kleinen Goethe (s. Eissler 1985, 1230 f) und des Schauspielers Goethe, der ja schon als Kind die griechische und römische Literatur gut kannte, läßt uns Goethe hier in neuer Gestaltung miterleben. So spielt Goethe bzw. Faust in der Szene z. B. Ödipus, Odys-seus und auch Cäsar wie noch gezeigt werden wird.

Traumhinweise in der Szene

Klassische Walpurgisnacht

Schon 1959 veröffentlichte Schadewaldt in seinem Aufsatz Goethes Knabenmärchen der neue Paris die Vermutung, daß das Knabenmärchen (welches aus zwei Kinderträumen Goethes besteht) an der Wurzel mit Goethes Faustdichtung verbunden sei und sich „recht besehen als eine andere Spiel­art des Kerngeschehens des zweiten Faust herausstellt" (Schadewaldt 1963, 263). Im Märchen vorkommende Ortsbeschreibungen, die auf Goethes Geburtshaus weisen, sind ebenso wie Handlungsabläufe des Märchens im Faust II in gleicher Abfolge wieder zu erkennen (Tiedemann 1986).

Goethe hat das Knabenmärchen vermutlich mittels bereits von ihm er­kannter Prinzipien der Traumarbeit zum Faust II ausgearbeitet. (Tiedemann 1986). Es ist sehr wahrscheinlich, daß Goethe den Faust II zugleich in seinem Geburtshaus in Frankfurt gleichnishaft hat spielen lassen.

So stellt jeder Akt des Faust II einen Abschnitt derselben Nacht dar und ist zugleich Schlaf- und Traumzustand Fausts. Entsprechend finden sich in jedem Akt des Faust II mindestens ein Nacht-, ein Schlaf- und ein Traumhinweis (Tiedemann 1986).

Wie aus zahlreichen Angaben in Goethes Werk hervorgeht, hat Goethe, der „Metamorphosen-Spezialist", sich nicht nur intensiv mit verschiedenen Naturwissenschaften (Kratz 1992), der Medizin und auch psychiatrischen Erkrankungen beschäftigt, man denke an Auerbachs Keller (Tiedemann 1995) oder Kerker aus Faust-I (Neulinger 1999), sondern insbesondere auch mit seinen Träumen und weiterer menschlicher See­lentätigkeit, dies zeigt auch insbesondere Eisslers Studie. Wie gezeigt werden konnte, erkannte Goethe einiges auf dem Gebiet der Psychoana­lyse so z. B. das Prinzip der Tagesreste:

was ich wachend am Tage gewahr wurde, bildete sich sogar öfters nachts in regelmäßige Träume, und wie ich die Augen auftat, erschien mir entweder ein wunderliches neues Ganze oder der Teil eines schon vorhandenen. Gewöhnlich schrieb ich alles zur frühesten Tages­zeit; aber auch ... tief... Nacht... (Goethe 3, 47f)

Und auch einige Prinzipien der Traumarbeit (Tiedemann 1986). Er wußte eine Symptomhandlung zu erkennen und zu deuten (bei Lili Schöne­mann) und erkannte Zusammenhänge zwischen Affekt, Verdrängung und psychischer Energie (Tiedemann 1996). Freud stellte fest, daß Goethe erkannte, daß das Träumen die Fortsetzung unserer Seelentätig­keit im Schlafzustand sei, vereint mit der Anerkennung des Unbewußten. Freud zitierte dazu aus Goethes Gedicht: An den Mond, letzte Fas­sung: „was von Menschen nicht gewußt oder nicht bedacht, durch das Labyrinth der Brust wandelt in der Nacht" (Freud 1930, 293).

Die meisten und deutlichsten Nacht-, Schlaf- und Traumhinweise ent­hält die Szene Klassische Walpurgisnacht. Aus Gründen der Kürze sollen davon hier nur wenige erwähnt werden.

Einen Traumhinweis stellt z. B. das aus Träumen Erwachen und dann wieder Einschlafen dar:

Faust:

Unterbrochnen Träumen zu! ... (7253)

Ich wache ja! (7271)

Sind's Träume? Sind's Erinnerungen? (7275)


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